Hermann Hesse, Demian;
Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend
Suhrkamp Taschenbuch 206, p.57-58
“Aber wie ist nun das mit dem Willen?” fragte ich.
“Du sagst, man hat keinen freien Willen. Aber dann sagst du wieder, man brauche nur seinen Willen fest auf etwas zu richten, dann könne man sein Ziel erreichen. Das stimmt doch nicht! Wenn ich nicht Herr über meinen Willen bin, dan kann ich ihn ja auch nicht beliebig da- oder dorthin richten.”
Er klopfte mir auf die Schulter. Das tat er stets, wenn ich ihm Freude machte.
“Gut, daß du fragst!” sagte er lachend. “Man muß immer fragen, man muß immer zweifeln. Aber die Sache ist sehr einfach. Wenn so ein Nachtfalten zum Beispiel seinen Willen auf einen Stern oder sonst wohin richten wollte, so könnte er das nicht. Nur – er versucht das überhaupt nicht. Er sucht nur das, was Sinn und Wert für ihn hat, was er braucht, was er unbedingt haben muß. Und eben da gelingt ihm auch das Unglaubliche – er entwickelt einen zauberhaften sechsten Sinn, den kein anderes Tier außer ihm hat! Unsereiner hat mehr Spielraum gewiß, und mehr Interessen als ein Tier. Aber auch wir sind in einem verhältnismäßig recht engen Kreis gebunden und können nicht darüber hinaus. Ich kann wohl das und das phantasieren, mir etwa einbilden, ich wolle unbedingt an den Nordpol kommen, oder so etwas, aber ausführen und genügend stark wollen kann ich das nur, wenn der Wunsch ganz in mir selber liegt, wenn wirklich mein Wesen ganz von ihm erfüllt ist. Sobald das der Fall ist, sobald du etwas probierst, was dir von innen heraus befohlen wird, dann geht es auch, dann kannst du deinen Willen anspannen wie einen guten Gaul.
(passage opnieuw gelezen: 1 november 2007)
pag. 126
Und hier brannte mich plötzlich wie eine scharfe Flamme die Erkenntnis: – es gab für jeden ein ‘Amt’, aber für keinen eines, das er selber wählen, umschreiben und beliebig verwalten durfte. Es war falsch, neue Götter zu wollen, es war völlig falsch, der Welt irgend etwas geben zu wollen! Es gab keine, keine, keine Pflicht für erwachte Menschen als die eine: sich selber zu suchen, in sich fest zu werden, den eigenen Weg vorwärts zu tasten, einerlei wohin er führte. – Das erschütterte mich tief, und das war die Frucht dieses Erlebnisses für mich. Oft hatte ich mit Bildern der Zukunft gespielt, ich hatte von Rollen geträumt, die mir zugedacht sein könnten, als Dichter vielleicht oder als Prophet, oder als Maler, oder irgendwie. All das war nichts. Ich war nicht da, um zu dichten, um zu predigen, um zu malen, weder ich noch sonst ein Mensch war dazu da. Das alles ergab sich nur nebenher. Wahrer Beruf für jeden war nur das eine: zu sich selbst zu kommen. Er mochte als Dichter oder als Wahnsinniger, als Prophet oder als Verbrecher enden – dies war nicht seine Sache, ja dies war letzten Endes belanglos. Seine Sache war, das eigene Schicksal zu finden, nicht ein beliebiges, und es in sich auszuleben, ganz und ungebrochen. Alles andere war halb, war Versuch zu entrinnen, war Rückflucht ins Ideale der Masse, war Anpassung und Angst vor dem eigenen Innern. Furchtbar und heilig stieg das neue Bild vor mir auf, hundertmal geahnt, vielleicht oft schon ausgesprochen, und doch erst jetzt erlebt. Ich war ein Wurf der Natur, ein Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu Nichts, und diesen Wurf aus der Urtiefe auswirken zu lassen, seinen Willen in mir zu fühlen und ihn ganz zu meinem zu machen, das allein war mein Beruf. Das allein!
(passage opnieuw gelezen: 30 oktober 2007)
pag. 144
Und wir empfanden einzig das als Pflicht und Schicksal: daß jeder von uns so ganz er selbst werde, so ganz dem in ihm wirksamen Keim der Natur gerecht werde und zu Willen lebe, daß die ungewisse Zukunft uns zu allem und jedem bereit finde, was sie bringen möchte.